NIKA-Aufruf zur antirassistischen & antifaschistischen Intervention in die Wahlkämpfe im Herbst 2017
Bei den Bundestagswahlen in Deutschland und den Nationalratswahlen in Österreich droht sich der Rechtsruck im Zentrum des europäischen Kapitalismus zu verfestigen. Auch wenn es zuletzt stiller um die Rechtspopulist*innen geworden ist,im Windschatten des neoliberalen „Weiter so“ steigen ihre Umfragewerte wieder. Der Anstieg findet statt, gerade weil Positionen der AfD und FPÖ inzwischen in wesentlichen Punkten von der bürgerlichen Mitte übernommen wurden. Ob tödliche Abschottung Europas gegen Geflüchtete oder Abbau demokratischer Grundrechte, Kriminalisierung sozialer Bewegungen und Ausbau des Polizeistaates – die autoritäre Formierung des Standortes wird von den Regierungsparteien und selbst Teilen der „linken Opposition“ längst als notwendige Antwort auf die Krisen der kapitalistischen Weltordnung verstanden. AfD und FPÖ sind dabei Stichwortgeber, Antreiber und Profiteure dieser Entwicklung in einem. Im Ping-Pong-Spiel mit der bürgerlichen Mitte verschieben sie die öffentliche Diskussion nach rechts und bauen ihre Stukturen aus. Die demokratische Mitte reagiert mit immer weiteren Gesetzesverschärfungen, um sich selbst als attraktivere Option für rechte Wähler*innen darzustellen. Dieser Strategie stellen wir uns entgegen: Der Rechtsruck wird nicht durch Anpassung an ihn gestoppt werden. Wir rufen die radikale Linke daher dazu auf, die öffentliche Aufmerksamkeit im Wahlkampf zu nutzen,um dem Rechtsruck in den Parlamenten und Behörden auf der Straße entgegen zu treten, die Fans der Festung Europa anzugreifen und die Normalisierung des Rechtsrucks zu stören. Gegen die nationale Antwort auf die soziale Frage setzen wir auf die grenzübergreifende Solidarität einer antikapitalistischen Bewegung, die sich bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg gezeigt hat. Der Wunsch nach grundsätzlicher Veränderung, der sich hier artikuliert hat, kann nicht einfach gewählt werden, aber der Wahlkampf ist eine gute Gelegenheit, öffentlich gegen die Akteure der Abschottung aller Couleur vorzugehen und praktisch deutlich zu machen, dass es ganz anders werden kann, ganz anders werden muss, als es sich die Fans der Festung Europa vorstellen wollen.
Gated Capitalism
Es kommt für die Elendsverwaltung in den Spitzenpositionen der deutschen EU offenbar völlig überraschend: Die Bürgerkriege und das Elend in den Randbezirken der globalen Wertschöpfungskette haben nicht plötzlich aufgehört. Die globalen Fluchtbewegungen, die sie verursacht haben, sind in den Gewinnerstaaten des weltweiten Hauens und Stechens nur als „Flüchtlingskrise“ bekannt. Abermals hat sich das geliebte Kernthema einer breiten Rechtskoalition von bürgerlicher Mitte bis völkischem Mob wieder auf den Titelseiten der Zeitungen breitgemacht. Alarmistisch plärren die Boulevardmedien von der Gefahr einer „erneuten Flüchtlingswelle“, die Deutschland zu überrollen drohe. Beliebt ist der aus dem völkisch-autoritären Umfeld stammende, inzwischen aber überall in der Parteienlandschaft anzutreffende Erklärungsansatz, die Bedrohung gehe auf eine zu lasche Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel zurück.
Dieser Trugschluss hat gerade für die Bundesregierung auch eine angenehme Kehrseite: Vor der Öffentlichkeit kann sie sich als Humanitätsweltmeister präsentieren, der seine Aufgabe als demokratische Beispielmacht verantwortungsvoll wahrnimmt – eine Rolle, in der sich die Fans der deutschen Vorherrschaft gerne sehen. Diese Pose ist allerdings ein ziemlich schlechter Witz: Die brutale Flüchtlingsabwehr wurde schlicht an andere Standorte wie die Türkei und Libyen outgesourct. Das Modell, was auch im globalen Kapitalismus viele Menschen gerne vergessen lässt, wieviel Sklavenarbeit in ihren alltäglichen Gebrauchsgegenständen steckt, funktioniert auch bei der Abwehr der Verlierer*innen dieses Systems.Mit einem guten Gewissen lässt sich die Aufnahme der Verdammten dieser Erde, die dem Horror an den Rändern des Krisenkapitalismus entfliehen wollen, nochmal so gut ablehnen. Und diejenigen, für die Menschenwürde sich ohnehin an der Passfarbe festmacht, können lügen, dass ausgerechnet die Politik einer Bundesregierung, die sich so gnadenlos an der Durchsetzung „ökonomischer Interessen“ orientiert wie die von Angela Merkel, humanistischen Illusionen erliegen würde.
Charackterschweine wie der ideelle Oberbürgermeister aller Wohlstandsbürger, der Grüne Boris Palmer, verraten, ohne es zu wollen, ein Kernelement des Kapitalismus: Wenn dessen Gesellschaften nicht aufgeteilt und abgeschottet wären, wäre es ruckzuck vorbei mit dem „sozialen Frieden“. Die Chance, überhaupt um ein gutes Leben konkurrieren zu können, gibt es nur noch für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung. Und diese „Chance“ für die Wenigen hat die Bedingung, dass die Vielen davon ausgeschlossen bleiben. Der Ausschluss der Verlierer*innen dieses Systems ist die Bedingung für die Zukunft der Illusion, in der Freisten aller möglichen Welten zu leben. Die innere Zurichtung im Gated Capitalism bedingt die Abschottung nach außen.
Sommer der Repression
Neben den Verschärfungen im Asylgesetz treibt die Große Koalition derzeit vor allem im Bereich der „inneren Sicherheit“ eine aggressive „Law and Order“-Politik voran und versucht dabei, die Rechten durch Übernahme ihrer Forderungen zu entwaffnen. Insbesondere im Nachgang der G-20 Proteste soll die Schraube nun angezogen werden. Infolge der polizeilichen Eskalationsstrategie, die Gipfelgegner*innen im Vorfeld des Gipfels mit Gewalt und Schikane überzog, wuchsen sich die Auseinandersetzungen mit der Polizei zu einem Ausmaß aus, das das Gewaltmonopol des Staates für einige Stunden von links in Frage stellte. Fieberhaft haben Regierung und Polizei aber versucht, das Ergebnis ihrer eigenen Repressionspolitik in eine Rechtfertigung für das aufgefahrene Arsenal umzudeuten. Die breite Öffentlichkeitsoffensive, die der Einsatz nach sich zog, machte die Gewalt der Polizei zur Randnotiz und ist ein Beispiel dafür, wie im Rechtsruck „Sicherheitspolitik“ begründet wird.
Denn schon im Vorfeld des G-20 Gipfels übertrumpften sich Union, SPD und Konsorten gegenseitig mit abenteuerlichen Vorschlägen zum Ausbau des Polizeiapparats und seiner Befugnisse. So wurde der Paragraf über Widerstand gegen Vollstreckungbeamte in einem Ausmaß verschärft, dass nun schon ein Schubsen zu einer Haftstrafe führen kann. Die Kriminalisierung der linken kurdischen Bewegung findet mit dem Verbot der Symbole der YPG ihren nächsten, absurden Höhepunkt – um dem türkischen Türsteher der europäischen Flüchtlingsabwehr zu gefallen. Als nächstes sollen Geheimdienste berechtigt werden, automatisch, ganz ohne Antrag, biometrische Daten aller Bürger*innen abzurufen. Die Verschärfung der gesetzlichen Maßnahmen schuf auch eine vorauseilende Legitimation der Polizeigewalt auf dem G20-Gipfel. In Östereich sieht die Situation ganz ähnlich aus. Diese „Law and Order“-Politik ist damit sowohl der duchsichtige Versuch, dort politische Handlungsfähigkeit zu simulieren, wo sozialpolitische Sicherheiten längst aufgegeben wurden, wie ihr weitgehend kritikloser Vollzug sein Symptom des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks ist.
Gegen die Normalisierung des Hasses
Die Bundesregierung aus Christdemokraten und Sozialdemokratie hat in den vergangen Monaten und Jahren (mal mit und mal ohne Unterstützung der Grünen) das Asylrecht immer weiter verschärft. Sie hat Grenzkontrollen eingeführt, mehrere Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt, sowie den Familiennachzug für Geflüchtete aus Syrien eingeschränkt. Seit einiger Zeit schiebt sie nun sogar wieder Geflüchtete nach Afghanistan in den Bürgerkrieg ab. Mit dieser Politik geben die etablierten Parteien dem rechten Druck von der Straße, aus den eigenen Reihen und an den Wahlurnen nach und kommen den Rassist*innen entgegen, in der Hoffnung, dadurch eigene Wahlniederlagen abzuwenden. Die Botschaft ist: Wer geschlossene Grenzen und Abschiebungen will, braucht nicht mehr AfD oder FPÖ wählen, sondern kann sein Kreuz auch bei Sozialdemokraten und Konservativen machen.
Die echten Fans des autoritären Charakters bleiben jedoch ihrer Marke treu: Jüngere Umfragen sehen AfD und FPÖ wieder langsam aus ihrem (vorübergehenden) Tief herausklettern. Angesichts der Tatsache, dass sie den Abgehängten dieser Gesellschaft, die ein autoritäres Lösungsmodell suchen, immer noch eine Alternative – nämlich das unverblümte Ausleben des Tretens nach Unten – bieten, ist diese Entwicklung wenig überraschend.Obgleich AfD und FPÖ wie alle völkischen „Systemgegner*innen“ real nur eine Fortsetzung des schlechten Ganzen auf einem neuen Brutalitätslevel bieten können, stellen sie dennoch eine Bourgeoisiefraktion dar, die mit der hegemonialen Fraktion konkurriert. Ihre Rebellenpose wirkt in dem Maß überzeugend, in dem die als Kampf gegen Rechts verkleidete Machtverteidigung der bürgerliche Mitte unglaubwürdiger wird.
So zeichnet sich nun langsam die Rolle ab, die der Rechtspopulismus in der politischen Landschaft spielen wird: Die Regierung und deren Institutionen auf einem Rechtskurs vor sich hertreiben und gleichzeitig der Dreck sein, an dem die Saubermänner der Mitte zeigen können, dass sie doch eine weiße Weste haben. Dies ist ein Modell, dass rechte Parteien in wirtschaftlich stabilen Staaten meist eingenommen haben. Eine schrittweise Normalisierung völkischer Positionen als Teil der Debatte ist die Folge. In Österreich lässt sich besichtigen, was eine weitreichende Normalisierung von Rechtsaußen-Positionen bewirkt. Hier hat die österreichische Sozialdemokratie nun sogar erklärt, eine Koalition mit der FPÖ nicht länger auszuschließen. Das Ergebnis ist wahrscheinliche eine Beteiligung der FPÖ an der nächsten Regierung. Und in der BRD droht eine konservative Mehrheit mit starker rechtspopulistischer Opposition. Der Einzug in den Bundestag wäre dabei nicht nur ein historisches Novum, sondern ein wichtiger Schritt der Konsolidierung für die AfD. Er bedeutet für sie Zugang zu staatlichen Geldern in einem wesentlich größerem als dem bisherigen Ausmaß. Es gibt der AfD auch eine wesentlich weitreichendere Gestaltungsmöglichkeit durch Besetzung von Abgeordnetenstellen und hunderte, eventuell sogar mehr als 400 Mitarbeiterstellen. Neben dem Gewinn an Geld und Kapazitäten erzielen die Rechten so eine höhere Legitimation als eine Partei von vielen in der demokratischen Parteienlandschaft. Letztendlich bedeutet der Einzug der AfD in den Bundestag auch die Normalisierung von den Holocaust relativierenden Antisemitismus. Es bedeutet die Normalisierung des direkten Versuchs der Abschaffung von bereits von Frauen erkämpften Rechten und Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten. Und es bedeutet die Normalisierung von eines aggressiven Rassismus, der die Forderung nach der Erschießung von geflüchteten Menschen als einen normalen Debattenbeitrag wahrnimmt und sich mit dem Islamismus in einer Eskalationsspirale befindet. Doch selbst wenn wir den Einzug der rechten in den Bundestag nicht verhindern können, die Normalisierung des Hasses können wir stören.
Times are changing: Make Racists afraid again!
Die Bewegungen der letzten Jahre sind nicht umsonst gewesen, der Sommer der Migration hat gezeigt, dass die Festung ins Wanken geraten kann – und es in der Gesellschaft zahlreiche Menschen und Initiativen gibt, die sich der Abschottung verweigern. Dass diese Positionen momentan wenig hörbar sind und dabei auch auf die linken Parteien kein Verlass ist, sollte niemanden entmutigen. Die letzten zwei Jahre haben zahlreiche Beispiele geboten, wo und wie der nationale Konsens empfindlich gestört werden kann. Egal ob bei der Fluchthilfe an den Grenzen, der Verhinderung von Abschiebungen, dem Kampf für soziale Zentren und den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg – all das hat deutlich gemacht, dass wir Sand im Getriebe sein können. Der Wahlkampf bietet nun zahlreiche Gelegenheiten, gegen die Akteure der Abschottung und die Fans der autoritären Formierung bei ihren Veranstaltungen und Ständen aktiv zu werden, ihre Plakate zu bearbeiten, sie in ihren Parteizentralen zu besuchen und sie bei ihren Kampagnen zu konfrontieren. Nötig ist das: der europaweite Rechtsruck wird nicht an der Wahlurne gestoppt werden. Für Abschottung und Ausgrenzung stehen alle staatstragenden Parteien. Ihrer Politik entgegen zu treten, heißt daher auch einen Gegenentwurf zum bürgerlichen Staat stark zu machen. Passenderweise ruft ein europaweites Bündnis aus linken Gruppen, Geflüchteteninitiativen, Künstler*Innen und Hilfsorganisationen dazu auf, anlässlich des Wahlkampfes und zum zweiten Jahrestag des Sturms auf die Festung Europa dezentral aktiv zu werden und dann am 16. September zu einer bundesweiten Parade gegen Abschottung und Abschiebung nach Berlin zu kommen. Nebenbei lässt sich dort an diesem Tag auch der reaktionären „Marsch für das Leben“ sabotieren. Am 24. September sollten wir dann die AfD bei ihren Wahlparties nicht alleine lassen und diesen historischen Moment so begehen, dass er als Ausnahme in Erinnerung bleibt. Auch um die Nationalratswahl in Österreich wird es zahlreiche Gelegenheiten geben, Sand in den Motorenraum der Festung Europa zu kippen. Und im Winter, wenn sich die Vorzeigerassist*innen derAfD in Hannover zu ihrem nächsten Bundesparteitag treffen, gilt es diesen maximal zu stören und gegen die autoritäre Formierung vorzugehen. Also, wo und wie auch immer: Die Gelegenheiten sind zahlreich – und auch die Nächte werden ja wieder länger.
Dates
- Ab 2. September: Dezentrale Aktionen gegen die Akteure der Abschottung
- 16. September, Berlin:
- Bundesweite Antiraparade
„Fighting for social rights – we’ll come united!“ - „Marsch für das Leben“? – What the fuck!
Den „Marsch für das Leben“ zu sabotieren
- Bundesweite Antiraparade
- 24. September überall: Die AfD Wahlparties crashen!
- Tag X in Wien: Demo gegen die Angelobung der FPÖ-Regierung!
- 1. – 3. Dezember: Aktionen gegen den AfD Bundesparteitag in Hannover! Achtet auf Ankündigungen…
Nationalismus ist keine Alternative im August 2017