Nicht erst seit dem G20-Gipfel in Hamburg ist der Kampf gegen den sogenannten Linksextremismus gesellschaftlicher Konsens. Die öffentliche Diskussion um den angeblichen Terrorismus von links hat jedoch durch das Großevent wieder deutlich zugenommen. Nun wurde das SEK bei einer Antifa-Demo im sächsischen Wurzen eingesetzt und De Maizière gibt Schüler*innen den Tipp, doch lieber zu Hause zu bleiben, statt etwas gegen Naziaufmärsche zu unternehmen. Auch international wird nach den tödlichen Auseinandersetzungen in Charlottesville/USA die Legitimität von militantem Antifaschismus diskutiert. Das zeigt deutlich: Die ,Linksextremen‘ sind das eigentliche Problem! Um linke Proteste und Aktionen zu delegitimieren und als ‚faschistisch‘ und ‚terroristisch‘ zu brandmarken, wird meist das Recht auf freie Meinungsäußerung in Stellung gebracht. Eine Veranstaltung von Rassist*innen darf nicht verhindert werden. Christliche Fundamentalist*innen dürfen nicht blockiert werden. Hetze, in Form von Wahlplakaten, zu entfernen, geht nicht, denn: „Hier herrscht doch Meinungsfreiheit!“
Das Phantasma der gesellschaftlichen Mitte
Eine Kernidee hält den bürgerlichen Staat im Innersten zusammen: die Vorstellung einer neutralen gesellschaftlichen ‚Mitte‘. Um zu funktionieren braucht die nationale Ordnung einen Ort der Versöhnung für die Interessensgegensätze zwischen links und rechts. Dort spiele sich das politisch Akzeptable ab, während sich an dessen Enden das Abweichende, das ‚Extreme‘ balle. Dabei hat die Studie „die enthemmte Mitte“ erst vor kurzem wieder bestätigt, dass die gesellschaftliche Mitte als Ort der Mäßigung und Menschenfreundlichkeit ein Phantasma ist. Völkische Einstellungen, antisemitische Denkmuster oder der Wunsch nach einem starken Führer lassen sich in weiten Teilen der Gesellschaft finden.
Die phantasierte gesellschaftliche Mitte entscheidet darüber, was als tolerabel gilt. Randständigkeit wird automatisch mit Bedrohung identifiziert. Unter dem Label ,Extremismus‘ werden linke und rechte Bewegungen und andere Akteur*innen kurzerhand gleichgesetzt, die sich nicht dem demokratischen Zwangskonsens fügen. Konkret heißt das: Die Sicherheitsorgane machen keinen Unterschied zwischen der Betätigung in einer Nazi-Terrorzelle oder der Mitgliedschaft in einer Gruppe, die auf eine emanzipatorische Gesellschaft hinarbeitet.
Die Geschichte des Mitte-Phantasmas bestimmt seit Jahrzehnten den Diskurs um die innere Sicherheit und ist eng mit dem ,Verfassungsschutz‘ verbunden. Der Inlandsgeheimdienst erhält seine Existenzberechtigung durch eine Geschichtserzählung, die sich bis heute zäh hält. In der Erzählung der deutschen Geschichte wird der Untergang der Weimarer Republik meist als ein Zusammenbruch der vernünftigen Mitte gedeutet – verursacht durch die permanenten Angriffe von links und rechts . Dabei wird völlig unterschlagen, dass die sogenannte ‚Mitte der Gesellschaft‘ mit großer Freude und aus innerer Überzeugung die Macht an die Nationalsozialist*innen abgegeben hat. Sie ist keineswegs einfach nur unter die Räder der sich bekämpfenden Extremist*innen gekommen, sondern hat den nationalsozialistischen Führerstaat mit offenen Armen empfangen.
Im Einklang mit dieser Erzählung ist es für den Verfassungsschutz als Wächter der ‚wehrhaften Demokratie‘ naheliegend, linken Protest mit sämtlichen Ausformungen reaktionärer Gewalt in einen Topf zu schmeissen. Sobald die diffuse Linie der Verfassungstreue überschritten ist, – und hier genügt ein Verdacht – sind operative Maßnahmen gegen Leute möglich, die nie gegen ein Gesetz verstoßen haben. Um als Extremist*in verzeichnet zu werden, reicht es aus, auf der ‚falschen‘ Demonstration gefilmt zu werden, das ‚falsche‘ Flugblatt verteilt zu haben oder schlichtweg eine Kritik zu vertreten, die den liberalen Wohlfühlbereich verlässt und den kapitalistischen Alltagswahnsinns in Frage stellt.
Dabei verteidigt das Trugbild der gesellschaftlichen Mitte lediglich den menschenverachtenden Status quo. Wer sich auf sie beruft, bestimmt darüber, wo ihre Grenzen – und mit ihr die Grenzen des Sagbaren – liegen und setzt alles daran, radikale politische Alternativen an den Rand zu drängen. Die Ideologie der Mitte steht wie keine andere für die repressive ‚Befriedung‘ einer Gesellschaft, die von fundamentalen Widersprüchen durchzogen ist. Sie stellt eine Kampfansage an jede linke Utopie dar.
Mit der Meinungsfreiheit zurück in die Barbarei
Mit dem Argument die Meinungsfreiheit zu verteidigen, werden linke Positionen zunehmend delegitimiert. Wie selbstverständlich wird hingegen Feuilletonrassist*innen wie Thilo Sarrazin große Medienöffentlichkeit zuteil. Sämtliche namhafte Talkshows räumten der AfD – besonders im vergangenen Wahlkampf – das Recht auf Dauerpräsenz ein. AfD-Plakate mit antifeministischen und völkisch-nationalen Slogans verschandeln momentan jedes Stadtbild – von Werbeständen und Wahlveranstaltungen ganz zu schweigen. Alles gedeckt von der demokratischen Grundordnung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Formiert sich jedoch linker Protest gegen den Rechtsruck und seine militanten Auswüchse, schreit es „Terror“ aus allen Richtungen. Denn Linke, so weiß man im bürgerlichen Staat, sind die eigentlichen Faschist*innen. Wenn es darum geht den politischen Gegner zu bekämpfen, wird ohne mit der Wimper zu zucken das hohe Gut der Meinungs- und Pressefreiheit über Bord geworfen. Das Verbot der linken Internetplattform ,,Indymedia linksunten“ ist dafür das aktuelle Beispiel.
Zwar kritisieren die bürgerlichen Medien durchaus Gruppen des rechten Hegemonieprojektes – das neben der AfD auch die sogenannte „Identitäre Bewegung“, Thinktanks wie das „Institut für Staatspolitik“ um Götz Kubitscheck und das auflagenstarke Magazin „Compact“ von Jürgen Elsässer umfasst. Im Vergleich mit dem Shitstorm, der sich im Nachgang von G20 über alles Linke ausgebreitet hat, ist diese Kritik jedoch ein Witz. Das kommt nicht von ungefähr. Jede rechte Abweichung spitzt lediglich zu, was in der Mitte bereits angelegt ist: Die geforderte Abschottung Europas gegen Geflüchtete beispielsweise ist mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex längst gegeben. In der Abgrenzung von Rechts kann sich umgekehrt die selbsternannte vernünftige Mitte als legitim, offen und demokratisch bestätigen – und zugleich rechte Forderungen in ihre Politik integrieren. Die politischen Vertreter*innen der Mitte sind sich nicht zu Schade, im Kampf um Wähler*innenstimmen deren Positionen offensiv zu vertreten. Doch warum sollte jemand die Kopie wählen, wenn es mit der AfD auf dem Wahlzettel das Original gibt? Nicht zuletzt deswegen ist vor Kurzem eine völkisch-nationalistische Partei als drittstärkste politische Kraft in den Bundestag eingezogen. Die von ihr geforderte Abschottung ist mit der Festung Europa, Frontex und den Deals mit Erdogan, lybischen Warlords und Co. ohnehin längst Realität.
Die selbsternannte gesellschaftliche Mitte pocht weiter auf Meinungsfreiheit und spielt damit doch nur denjenigen in die Hände, die den Diskurs nach rechts verschieben wollen. Gutgläubig hoffen Liberale über die öffentliche Diskussion mit der AfD deren Anhänger*innen wieder auf den Pfad der Erleuchtung zu bringen. Damit scheitern sie zwangsläufig – die Idee der Meinungsfreiheit impliziert einen objektiv-rationalen Diskurs unter mündigen Subjekten. Freie Rede unter freien Subjekten benötigt aber einen Rahmen, der erst noch zu schaffen wäre. Denn Objektivität unter den Bedingungen der falschen Freiheit bedeutet immer Einverständnis mit Ausgrenzung, Unterdrückung und Verwertungszwang.
„Antifa are as bad as fascists“ is a position you could only arrive at if your only problem with fascism is that it’s too rowdy.“
Es läuft etwas grundlegend falsch, wenn das, was als freie Meinungsäußerung toleriert und geschützt wird, in seinen wirkungsvollsten Erscheinungen Sozialchauvinismus, Rassismus und Sexismus propagiert. Diese Propaganda ist Element des rechten Hegemonieprojekts, das seinen menschenfeindlichen Worten längst Taten folgen lässt. Der Widerstand dagegen kann keine Rücksicht auf die Maßstäbe der selbsternannten Mitte mit ihrem abstrakten Prinzip der Meinungsfreiheit nehmen. Als eine Art Guerilla-Zensur von unten sind das Verhindern von Auftritten rechter Politiker*innen oder das Entfernen von Wahlplakaten eine Intervention in diese Kriterien und die ganz realen Ausschlüsse, die die Mitte durchsetzt. Unser Widerstand bemisst seine Mittel der Kritik am Gegenstand seiner Kritik. Europa befindet sich auf dem Weg in finstere Zeiten. Als Linke liegt es an uns, den Widerstand gegen die Faschisierung zu organisieren und in grenzübergreifender Solidarität die Perspektive einer befreiten Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Deshalb werden wir nicht alles dulden, was sich derzeit im Rahmen der ‚freien‘ Meinungsäußerung abspielt.
Anmerkung: der Text wurde im Jahr 2017 als Flyer veröffentlicht.