Von Corona, Deutschland und seinen Nazis, dem autoritären Staat, Reproduktionsarbeit und der Perspektive auf die befreiten Gesellschaft
Die Vorbereitungen auf den 1. Mai in Hamburg standen dieses Jahr ganz im Zeichen der von den Parteien „Die Rechte“ und der NPD Hamburg geplanten Demonstration in Hamburg-Harburg. Ob diese unter den gegebenen Umständen stattfinden wird, ist derzeit noch offen und wird sich wohl erst am Tag selbst endgültig zeigen. Gerade der 1. Mai liefert jedoch Anlass, sich als Antifaschist*in nicht auf den notwendigen Abwehrkampf gegen Rechts zu beschränken, sondern auch darüber hinaus aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen und zu kritisieren. Die Gesellschaft zum jetzigen Zeitpunkt ist in all ihren Bereichen geprägt von der Corona-Pandemie und den Maßnahmen, die der Staat zu deren Eindämmung ergriffen hat. Im Zuge dessen treten einige Widersprüche, die unserer Gesellschaft inhärent sind, besonders deutlich zu Tage, andere Themen jedoch werden von der alles bestimmenden Pandemie überdeckt und gehen im Diskurs unter. Ein Grund mehr, gerade jetzt aktiv zu bleiben, die Dinge aus einer linksradikalen Perspektive zu kritisieren und gemeinsam darüber nachzudenken, wie Handlungsperspektiven in diesen Zeiten aussehen könnten.
Als Hamburger Ableger des bundesweiten NIKA-Bündnis wollen wir unsere Sicht auf einige dieser Punkte darlegen. Dabei hat dieser Text nicht den Anspruch, eine umfassende Analyse davon zu liefern, welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf die deutsche Gesellschaft hat und wie diese darauf reagiert. Wir beschränken uns auf die Bereiche, die in der Vergangenheit, und vermutlich auch zukünftig, Schwerpunkte unserer politische Arbeit waren und sein werden, ohne anderen Bereichen damit ihre Relevanz absprechen zu wollen.
Bedrohung von Rechts
Eines der Themen, das im aktuellen Diskurs kaum noch Beachtung bekommt, ist rechter Terrorismus. Dieser zeigte sich in den vergangenen Monaten in einer erschreckenden Regelmäßigkeit in Form von misogynen, antisemitischen und rassistischen Anschlägen: Der Mord an Walter Lübcke durch Stephan Ernst (Juni 2019), der Anschlag von Halle (im Oktober 2019) und der rassistische Mord an neun Menschen in Hanau (im Februar 2020) beweisen eine nicht zu ignorierende anhaltende Bedrohung. Auch der Mord an Arkan Hussein Khalaf (am 7. April diesen Jahres) in Celle weist auf einen rechten Hintergrund hin, der von den Ermittlungsbehörden geflissentlich ignoriert wird. Es deutet also nichts darauf hin, dass die Serie rechter Anschläge in Deutschland in Zeiten von Corona aufhören würde.
Selbst die deutschen Inlandsgeheimdienste, die in der Vergangenheit nicht gerade dadurch aufgefallen sind, dass sie eine rechte Bedrohung allzu ernst genommen hätten, warnen in diesen Tagen vor einer steigenden Gefahr rechtsextremer Anschläge. Diese Bedrohung schließt an eine Kontinuität des hiesigen Rechtsterrorismus an, für den Gruppen wie das immer noch aktive Combat18 Netzwerk oder die Unterstützernetzwerke des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) stehen. 2016 wurde die „Gruppe Freital“ aufgedeckt, die Anschläge auf Geflüchtete und deren Unterstützer*innenkreise geplant hatten. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich genug Beispiele, wie das 2018 aufgeflogene „Hannibal-Netzwerk“, das Todeslisten politischer Feinde anlegte und sich auf einen vermeintlich bevorstehenden Bürgerkrieg vorbereitete, oder die Mord- und Anschlagspläne der „Gruppe S.“. In diesen Gruppen sind immer wieder Soldaten der Bundeswehr und Polizisten anzutreffen, also diejenigen, denen derzeit und in naher Zukunft außerordentliche Befugnisse zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zugesprochen werden sollen.
Die Erklärungsmuster der Endzeit- und Bürgerkriegsphantasien, die in diesen Strukturen vorherrschen, sind jedoch nicht nur am rechten Rand, sondern bis weit in die Gesellschaft hinein anzutreffen. So nimmt die Verbreitung von Verschwörungstheorien stetig zu und auch das Corona-Virus lockt ihre Anhänger*innen wieder aus den Löchern. So tummeln sich seit Wochen in Berlin mehrere hundert Aluhelmfans, ausgestattet mit Grundgesetzbüchern, um ihre krude Kritik an den Einschränkungen des Versammlungsrechts mit Warnungen vor einer „Coronadiktatur“ zu vermischen und gleichzeitig die Gefährlichkeit von Covid 19 zu leugnen. Auch in Hamburg treffen sich rechte Impfgegner*innen bei Demo-Spaziergängern und fordern die Einhaltung der Grundrechte, gepaart mit klassischen verschwörungstheoretischen Argumentationsmustern.
Wie sich die Rolle rechter Parteien entwickeln wird, muss sich noch zeigen. Die AfD übt sich derzeit in Kriegsrhetorik und fordert die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf den nationalen Verteidigungsfall. Gleichzeitig müsse der Sozialstaat so schlank wie möglich gehalten werden, um Armutsimmigration zu vermeiden. Mieten sollen nicht gestundet werden dürfen und ökonomische Beschränkungen schnellstmöglich gelockert werden. Dass die Partei damit derzeit in den Wahlumfragen nicht Punkten kann, ist nur eine kleine Genugtuung, denn es ist noch nicht abzusehen, ob dies auch so bleiben wird. Schon die letzte Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 zeigte das regressive politische Potential einer solchen Situation. Wie das in der nun erwarteten Wirtschaftskrise und der politischen Aufarbeitung der Corona-Krise sein wird, ist also noch offen. Andere rechte Parteistrukturen, wie JN, DIE RECHTE und Dritter Weg, versuchen bereits die Situation für sich zu nutzen, indem sie Unterstützung für Deutsche anbieten und auf diesem Weg rassistische und nationalistische Ideologie verbreiten und Sympatisant*innen an sich binden wollen.
Anders als von vielen behauptet ist also nicht zu erwarten, dass die Bedrohung von Rechts im Zuge der Corona-Pandemie abnehmen wird. Insbesondere jene, die sich den Ausnahmezustand herbeigesehnt haben, könnten sich nun ermutigt fühlen, ihre Phantasien in die Realität umzusetzen. Es bleibt also unabdingbar, rechte Strukturen und Parteien im Blick zu behalten und gegen sie vorzugehen.
Fuck nationalism
Wir erleben derzeit eine neue Qualität in der Anrufung des nationalen „Wir“ zur Bewältigung der Corona-Krise. Der staatlich beschworene gesellschaftliche Zusammenhalt dieser Tage zeigt sich in der politischen Realität als erschreckend exklusives und nationalistisches Projekt. Im Fahrwasser der unbedingt notwendigen Eindämmung der Pandemie wird der Kampf gegen den Virus dabei zu einer Art nationalem Verteidigungsfall, in dem Opferbereitschaft von jedem einzelnen Individuum verlangt wird. Die deutsche Krisenpolitik hat wenig mit den solidarischen Momenten zu tun, die aktuell als Graswurzelbewegungen vielerorts zu beobachten sind. Denn während innerhalb kurzer Zeit mehr als 120.000 Deutsche aus dem Ausland nach Deutschland zurückgeholt wurden, sind die Grenzen Europas nun gänzlich abgeriegelt und das Asylrecht jetzt auch ganz offiziell von den europäischen Staaten missachtet worden. In Deutschland sank die Zahl von Asylanträgen im März 2020 auf fünfzig Prozent der Anträge des Januars.
Gleichzeitig zeigt sich von Seiten des bürgerlichen Staates derzeit auch eine klassische sozialdemokratische Befriedungstaktik, in Form von Sofortzahlungen und Boni für bestimmte „systemrelevante“ Berufsgruppen.
Das zynischste Bild der aktuellen Situation zeigt sich jedoch in der Rettung der deutschen Spargelernte. Während sich im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos am äußersten Rand der EU eine humanitäre und moralische Katastrophe wie in Zeitlupe abspielt, sorgt der durch zahlreiche Grenzschließungen verursachte Mangel an unterbezahlten Saisonarbeiter*innen für im Normalfall undenkbare politische Schritte: Zur Auflösung dieses Engpasses an Arbeitskraft werden die Grenzen und juristischen Barrieren nun für genau die Menschen minimal geöffnet, für die sie normalerweise undurchlässig sind. Bis zu 80.000 Arbeiter*innen, zu großen Teilen aus Rumänien, sollen im April und Mai per Flugzeug eingeflogen werden und unter „strengen Quarantäneregeln“ deutschen Spargel stechen. Ein Vorstoß aus den Reihen der CDU veranlasste sogar Regelungen zur außerplanmäßigen Arbeitserlaubnis für Asylsuchende als Erntehelfer*innen.
In der politischen Realität erweisen sich die moralischen Appelle zur gemeinsamen Bewältigung der Corona-Krise als durchdrungen von Bildern der Nation als Volksgemeinschaft, die zusammenhalten muss, die nicht mit allen teilen und nicht entsprechende Gegenleistungen aufbringen könne, und die den Einzelnen besondere Opfer abverlange. Im derzeitigen Ausnahmezustand, in seinem Zusammenspiel mit einer drohenden medizinischen Krise, findet diese Anrufung, wie auch die äußerst ungleiche Verteilung von staatlichen Hilfen, in der deutschen Klassengesellschaft wenig Widerspruch. Dass sich die gleichen Argumentationen in den bevorstehenden Wirtschaftskrisen wiederfinden werden, ist zu erwarten.
Gegen die Fans des autoritären Staats
Der aktuelle Diskurs befasst sich maßgeblich mit Möglichkeiten einer Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus. Zwar sind überall Mahnungen hinsichtlich einer zweiten Welle oder eines rapiden Anstiegs von Infiziertenszahlen zu hören, doch scheint die Abwägung zwischen der Gesundheit der Menschen, und wie viel die deutsche Wirtschaft noch aushalten kann, zu Gunsten der Wirtschaft getroffen worden zu sein.
Und obschon auch von Jens Spahn Forderungen nach einem solidarischen europäischen Gesamtvorgehen zu hören sind, haben wir nicht vergessen, dass Deutschland zu Beginn erst einmal die Auslieferung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten verhindern wollte. Auch die Rufe nach einem einheitlichen und strengen Vorgehen von Seiten des Staates, die aktuell zwar eher am verstummen sind, hallen nach: Die Inszenierung Markus Söders als Macher der Stunde, der statt kritisiert dafür abgefeiert wurde, strenge Einschränkungen individueller Grundrechte, welche dem Verzichtsnarrativ entsprochen haben, durchzusetzen. Das dabei Ausgangssperren, Kontaktverbot, Grenzschließungen und Verbote jeglicher politischer Versammlungen unhinterfragt hingenommen und die staatlichen Maßnahmen als einzige Wahrheit akzeptiert wurden, muss für Fans autoritärer Politik zu Endorphinausbrüchen geführt haben.
Lange spielte die Frage, ob diese Maßnahmen nach bürgerlichem Recht noch verfassungskonform sind, durch #flattenthecurve nur eine zweitrangige Rolle. So ist auf Grundlage der Allgemeinverfügung das Protestzelt der Gruppe Lampedusa in Hamburg geräumt worden, welches auf die entmenschlichende Situation von Menschen mit Fluchtgeschichte in Hamburg aufmerksam gemacht hat. Das gesundheitliche Aspekte zur Eindämmung der Corona-Pandemie umgesetzt und eingehalten wurden, interessierte da nicht weiter. Und während die Polizei fleißig ihrer neuen Aufgabe als Schuheinsammlerin wie bei #LeaveNoOneBehind nach kam, bedeutet die gesteigerte Polizeipräsenz für marginalisierte Menschen eine permanente Bedrohung und Schikane etwa durch rassistische Kontrollen. Denn die Durchsetzung der Maßnahmen findet in einem weit gefassten Graubereich statt, der den Ordnungshüter*innen einen äußerst schwammig definierten und breit ausgelegten Handlungsspielraum eröffnet. Die schon im Normalzustand äußerst exklusiven bürgerlichen Grundrechte werden massiv eingeschränkt. So wird der öffentliche Raum für Menschen weiter zur Gefahr, nicht nur bedingt durch den Virus.
Der bürgerliche Staat reagiert, wie ein bürgerlicher Staat eben reagiert: mit autoritären Instrumenten. Und so wird für die Sicherheit des politischen und subjektiven Körpers die Freiheit geopfert. Diese Momente autoritärer Tendenzen fanden sich bereits vor der Corona-Krise, beispielsweise mit der bundesweiten Verschärfung von Polizeigesetzen und sollten als dem bürgerlichen Staat inhärenten Instrumente nicht überraschen. Ein vorerst perfider Höhepunkt zeigt sich jedoch im Vorgehen der Exekutive gegen jegliche politische Äußerungen im öffentlichen Raum – gepaart mit einem umfassenden Bußgeldkatalog (in welchem Einzelfälle auch zu Straftaten werden können) und dem Verprügeln von Fahrradfahrer*innen von Seiten der Hamburger Polizei. So werden wichtige politische Organisierungsprozesse, wie wir sie kennen, nicht nur durch das Virus selbst und dessen mögliche Übertragung verhindert, sondern auch dort, wo Protest und Organisierung durchaus denkbar, möglich und wichtig sind, durch Verordnungen und gewalttätige polizeiliche Angriffe verhindert und bestraft. Aktuelle Beschlüsse vom Bundesverfassungsgericht zeigen jedoch, dass eben nicht alle repressiven Einschränkungen der Versammlungsfreiheit gesundheitlich zu rechtfertigen sind. Unter enormen Auflagen gelang es so beispielsweise der Seebrücke Hamburg, kleinere Mahnwachen zu veranstalten.
Der Status quo war auch schon vor Corona inakzeptabel. Doch gerade in Krisen wie der jetzigen entwickeln sich neue Formen gesellschaftlicher Kontrolle. Die aktuelle Diskussion um neue Überwachungsstrukturen, wie die Weitergabe von Handydaten zur Bestimmung von Bewegungsprofilen oder eine freiwillige Nutzung von Corona-Apps, können dabei strukturbildend für einen zukünftigen Ausbau von Kontrollmechanismen sein. Gerade hier ist es enorm wichtig, wachsam zu bleiben, denn offen muss an dieser Stelle bleiben, wie schnell und bis zu welchem Grad die Maßnahmen zurück genommen werden und was sich vielleicht als neue Realität etablieren kann.
Reproduktionsarbeit in Zeiten von Corona
Die aktuelle medizinische und ökonomische Krise betrifft weiblich sozialisierte Personen stärker als männlich sozialisierte. Und obschon mittlerweile den meisten klar sein sollte, dass diese zweigeschlechtliche Aufteilung der Gesellschaft queere, trans-, inter- und nicht-binäre Lebensrealitäten ignoriert, werden aktuell Menschen mehr denn je auf ihre vermeintlich biologischen Geschlechter und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Rollenverständnissen reduziert: Die Frau als Kümmerin – im Öffentlichen sowie im Privaten.
Berufe, die gesellschaftlich wenig Wertschätzung erfahren, prekär sind und hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, werden plötzlich als „systemrelevant“ erkannt – ob im Supermarkt, in Kitas oder in Krankenhäusern. Die neoliberale Sparpolitik in diesen Bereichen verschlechtert die Arbeitsbedingungen dort schon seit Jahren. Doch anstatt aktuell über konkrete Verbesserungen, auch über die Krisenzeit hinaus zu diskutieren und beispielsweise jahrelang ignorierte Forderungen von Gesundheitsarbeiter*innen umzusetzen, bleiben diese bis auf einen symbolischen Boni unterbezahlt und werden lediglich um 21 Uhr beklatscht. Das dazu aktuell noch Arbeitsgesetze aufgeweicht werden und so beispielsweise ein 12-Stunden-Tag möglich wird, verschlechtert zunehmend die Situation in diesen Arbeitsbereichen. Die gesundheitliche Gefahr bei Berufen, die auf Sozialkontakt angewiesen sind, spitzt die Situation der Arbeitenden selbst sowie für Menschen in ihrem Umfeld zu. Denn Sorgearbeit für die eigenen Eltern und Großeltern wird auch heutzutage primär von Frauen verrichtet. Der gesellschaftliche Tenor scheint zu sein: Für das kollektive Durchstehen bitte noch einmal mehr die Zähne in sowieso schon beschissenen Verhältnissen zusammenbeißen.
Neben der gestiegenen Belastung in weiblich konnotierten und mehrheitlich von Frauen ausgeübten Berufen müssen vor allem jene auch im ausgegliederten Privaten die Krisenmaßnahmen tragen und zu Stoßdämpferinnen der Ausnahmesituation werden. Zu existenziellen Ängsten oder privilegierter Verlagerung der Lohnarbeit ins Homeoffice kommt so unter anderem Kinderbetreuung, gestiegene Hausarbeit und die Übernahme von Lehrer*innentätigkeiten hinzu.
Der Rückzug ins Private bedeutet zusätzlich zur Mehrfachbelastung eine Zunahme häuslicher Gewalt und intersektioneller Benachteiligung, zusätzlich werden regressive Rollenmodelle verstärkt. Das eigene Zuhause als sicherer Ort entpuppt sich als zynisches Bild. Das dabei seit jeher die derzeitige Rückbesinnung auf die biologische Kernfamilie mit klassisch patriarchaler Rollenverteilung ein regressives Moment von Rechts ist, findet keine weitere Beachtung.
Gleichzeitig bleibt dies im Prozess des Krisenmanagements hinter den Wohnungstüren unsichtbar. So verschärft die aktuelle Lage alle Konflikte und Diskriminierungen unserer Gesellschaft zu Ungunsten der sowieso Benachteiligten. Wer ohnehin schon von Sexismus, Rassismus und anderen Diskriminierungen betroffen ist, wird es in „Times of Corona“ noch stärker erleben. Diese Entwicklung wird zugleich hinter den alles umfassenden Maßnahmen des Ausnahmezustandes unsichtbar und scheinbar unantastbar.
Solidarität und die befreite Gesellschaft
Es zeigt sich immer deutlicher, dass die derzeitige Krise nicht nur ein medizinische ist und die bevorstehende Krise nicht nur eine ökonomische sein wird. Es ist die Krisenhaftigkeit, die untrennbar zum Wesen der bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gehört, die sich in diesen Tagen zuspitzt, qualitativ jedoch wenig Neues mit sich bringt. Deutlicher denn je ist derzeit zu beobachten, dass die Strukturen dieser Gesellschaft nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sind, sondern einer Verwertungslogik folgen, die nur den Allerwenigsten zu Gute kommt. Daran ändern auch die beschlossenen Unterstützungsleistungen nichts, die die drohende Armut von Millionen Arbeitnehmer*innen aufhalten sollen.
Das vielbeschworenen Narrativ, alle seien im gleichen Maße von der Corona-Krise betroffen, entpuppt sich als Versuch, die bestehenden Ungleichheiten in unserer Gesellschaft zu vertuschen. Das Machtgefälle in Deutschland verläuft nach wie vor an den alten Linien von Besitz, Gender, Staatsbürgerschaft und Hautfarbe. Das Opfer der Solidarität, wie sie von Politik und breiten Teilen der Gesellschaft gefordert wird, bedeutet für die einen somit einen netten Kurzurlaub im Ferienhaus, für andere Existenzängste, weil durch Lohnausfälle die Miete nicht gezahlt werden kann. Solidarität funktioniert also nicht als staatliche Verordnung, sondern nur als kollektive Praxis von unten und muss von uns als Solidarität gegen Staat und Kapital gelebt werden.
Es ist davon auszugehen, dass das, was wir derzeit erleben, nur der Anfang einer langfristigen Verschärfung der Verhältnisse ist. Gleichzeitig öffnen sich aber auch Räume, die von uns als Linke besetzt werden müssen, damit die Abwärtsspirale aus autoritärer Formierung und Rechtsruck aufgehalten wird. Daher ist es umso wichtiger, dass wir uns nicht in die Rolle passiver Objekte der staatlichen Pandemiepolitik drängen lassen und unsere Optionen nicht darauf beschränken, was uns von Politiker*innen und Virolog*innen angeboten wird. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben, uns vernetzen und gemeinsam eigene Antworten formulieren, die eine wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, denkbar macht. Kollektive Strukturen aufzubauen, in denen wir uns gegenseitig unterstützen, die uns unabhängiger von staatlichen Institutionen machen und die uns helfen, der Vereinzelung ein solidarisches Kollektiv entgegenzustellen, wären ein Anfang. Die aktuelle Realität birgt für uns keine Perspektive, die befreite Gesellschaft schon!
NIKA Hamburg am 29. April 2020