Der neonazistische Rudolf-Heß-Marsch und antifaschistische Gegenmobilisierungen
Vor hundert Jahren gründeten sich in Italien die Arditi del Popolo (Mutigen des Volkes), um dem aufkommenden Faschismus den Kampf anzusagen. Das Jahr 1921 kann also als Gründungsdatum antifaschistischer Bewegungen gelten. Die Ausgangslage heute ist in keiner Weise mit den Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik oder der Arbeit im Untergrund während des Nationalsozialismus zu vergleichen. Aktionsformen und Strategien wurden viel diskutiert und haben sich seit damals vielfach gewandelt. Anfang der 1990er Jahre gründeten sich in vielen deutschen Städten Antifagruppen wie wir sie heute kennen. Ihr Ziel war es, Nazis aus der Deckung zu holen, ihre Aufmärsche zu verhindern und ihnen ihre Zentren zu nehmen.
Ein Ort, an dem diese Auseinandersetzung über Jahrzehnte stattfand und immer noch stattfindet, ist die oberfränkische Stadt Wunsiedel. Seit den 90er Jahren ist Wunsiedel ein zentraler Ort für die neonazistische Szene in Deutschland und darüber hinaus. Dort wurde der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, der in den Nürnberger Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und der in der Szene als Märtyrer gilt, beerdigt. Bereits kurz nach seinem Tod belagerten Neonazis über Wochen den Friedhof in Wunsiedel, um an seiner Beerdigung teilzunehmen. In den 90er und 2000er Jahren gehörten die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche mit teils bis zu 4.600 Teilnehmenden dann zu den größten extrem rechten Aufmärschen Europas. Seit den ersten Rudolf-Heß-Märschen haben es sich Antifaschist*innen zur Aufgabe gemacht, die Nazis in ihrer Inszenierung und ihrem Gedenken zu stören, ihre Strukturen aufzudecken und die Aufmärsche zu verhindern.
Die 90er Jahre:
Bereits 1988, ein Jahr nach dem Tod Rudolf Heß‘ fand in Wunsiedel der erste Gedenkmarsch statt. Organisiert wurde er von den prominenten Nazis Michael Kühnen und Christian Worch, der Nazianwalt Jürgen Rieger setzte den Aufmarsch gegen ein Verbot in der ersten Instanz durch. Trotz der bekannten Organisierenden blieb der Aufmarsch im 1. Jahr mit 120 Teilnehmenden noch relativ klein. Das änderte sich aber in den darauf folgenden Jahren: Bereits 1990 nahmen bis zu 1.100 Neonazis an der Veranstaltung Teil, der Heß-Marsch wurde zu einem der größten Events der neonazistischen Szene. 1991 wurde der Aufmarsch dann verboten, nicht zuletzt auch wegen antifaschistischer Gegenmobilisierung in Wunsiedel, die Nazis wichen nach Bayreuth aus. Trotz der spontanen Änderungen gelang es, rund 2.000 Antifaschist*innen für die Gegenproteste zu mobilisieren. Im Jahr darauf sollte daran angeknüpft und die Aktionsfelder erweitert werden:
„Wir finden es richtig und wichtig, neonazistische Demonstrationen wo möglich zu verhindern. Für Wunsiedel halten wir eine Doppelstrategie für realistisch. Einerseits durch eine starke Bündnisdemonstration ihnen politisch zu begegnen und, wo möglich, ihnen »Räume und Plätze« zu nehmen, andererseits gezielt in ihre Vorbereitungen und den Ablauf ihrer Demonstration einzugreifen.“1
Die hier formulierte Strategie wurde dann auch konsequent umgesetzt. Im Kreis Gütersloh, wo zentrale Akteur*innen der Neonaziszene lebten, fanden antifaschistische Demonstrationen zu deren Privatadressen statt, ebenso kam es zu verschiedenen Sabotageaktionen.
Aufgrund der staatlichen Verbote und der massiven Gegenproteste versuchten die Nazis sich verstärkt in klandestiner Mobilisierung, was mittelfristig für einen Bedeutungsverlust der Aufmärsche und kurzfristig für chaotische Zustände sorgte.
»Antifa heißt Busfahren« lautete die selbstironische Parole der 1990er Jahre. In vordigitalen Zeiten ohne Internet, SMS und Mobiltelefone waren die Mobilisierungen zu Heß‘ Todestag für alle Beteiligten eine Herausforderung. Neonazis verabredeten sich u.a. über „Nationale Infotelefone“ an Schleusungspunkten. Antifaschist*innen organisierten Busse und machten sich auf den Weg zu einem möglichst zentralen Ort in der Bundesrepublik, ohne zu wissen, wohin die Reise am Ende gehen würde.2
Durch Verbote und antifaschistische Interventionen, die die Nazis immer stärker zu spontanen und klandestinen Mobilisierungen zwangen, verlor der Aufmarsch Mitte der 90er an Bedeutung, teilweise mussten die Nazis sogar nach Belgien oder Dänemark ausweichen.
Die 2000er
Aufgrund der geringen Bedeutung der Aufmärsche Ende der 90er Jahre fiel der Grund der Verbote – eine Gefahr für die öffentliche Ordnung – für die Gerichte weniger ins Gewicht und es gelang dem Neonazi Anwalt Jürgen Rieger 2001 am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, diese zu kippen. Die Folge war, dass erneut tausende Neonazis in Wunsiedel demonstrierten und öffentlich Nazi-Kriegsverbrechern gedachten.
Während der Bürgermeister von Wunsiedel (SPD) in der Vergangenheit immer dafür plädiert hatte, die Nazis schlicht zu ignorieren, wurde ab 2001 auch die Wunsiedler Zivilgesellschaft aktiv. Es wurden Banner in der Stadt aufgehängt, die Festwiese nicht mehr an die Nazis vergeben und 2004 kam es sogar zu einer Sitzblockade der neu gegründeten „Jugendinitiative gegen Rechtsextremismus“. An der Blockade, die den Naziaufmarsch mit ca. 4.600 Teilnehmenden für eine halbe Stunde zum stehen brachte, beteiligten sich auch Kommunalpolitker*innen der CSU sowie der Bürgermeister (SPD).
Auch autonome Antifaschist*innen begannen wieder, sich mit Wunsiedel zu beschäftigen, die Kampagne „NS-Verherrlichung Stoppen“ wurde gegründet. Die Kampagne hatte zum Ziel „Gegen jede Form der Verherrlichung des Nationalsozialismus und der Relativierung der Deutschen Geschichte“ vorzugehen, dabei wurde im Heß-Gedenkmarsch der zentrale Schwerpunkt gesehen. Doch bereits 2005 wurden die Heß-Märsche aufgrund der Störung des „öffentlichen Friedens in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise“ erneut verboten. „NS-Verherrlichung Stoppen“ entschied sich trotzdem dafür, weiter nach Wunsiedel zu mobilisieren. Es gelang, das Thema Rudolf-Heß-Marsch bundesweit wieder auf das Radar von Antifaschist*innen zu bekommen und eine kraftvolle Demonstration mit über 2.000 Teilnehmer*innen zu veranstalten.
Die Verbote hatten auch in den folgenden Jahren bestand und mit der Auflösung des Heß-Grabes 2011 verlor die neonazistische Rechte ihre Pilgerstätte.
Heute
Heute veranstaltet der III. Weg, der Nachfolger des verbotenen „Freies Netz Süd“, jährliche Märsche unter dem Titel „Heldengedenken“ im November. Offiziell ist dabei jeglicher Bezug zu Rudolf Heß untersagt. Auch wenn es seit 2004 nicht mehr gelang, mehr als 250 Nazis zu den Veranstaltungen zu mobilisieren, ist die Bedeutung für die Szene intern nach wie vor groß. Dort treffen sich führende Kader der neonazistischen Szene. Immer wieder zeigt sich hier auch die enge Verbindung des III. Wegs zum Rechtsterrorismus. Auch die Wirkung als verbindendes, stärkendes Event für die Szene ist nicht zu vernachlässigen. Insbesondere da die Aufmärsche in den letzten Jahren weitgehend störungsfrei abliefen. Bürgerlicher und kirchlicher Protest mit Bratwurst außerhalb der Hörweite sorgte zwar dafür, dass die Nazis nicht durch Innenstadt laufen konnten, störte diese aber auch nicht weiter.
Um dem ritualisierten, symbolischen Protest in Wunsiedel neuen Wind einzuhauchen und den Naziaufmärschen den Kampf anzusagen, haben sich 2019 verschiedene Antifagruppen aus Süd- und Ostdeutschland zum „Nicht lange Fackeln!“ Bündnis zusammengefunden. Mit einer entschlossenen antifaschistischen Mobilisierung gelang es bereits im ersten Jahr, 350 Antifaschist*innen zu einer kämpferischen Demonstration nach Wunsiedel zu mobilisieren. In einer Rede hieß es:
„Was wir fordern, ist ein antifaschistischer Konsens. Wir wollen eine Strategie erarbeiten, wir wollen protestieren, uns dagegenstellen, laut, gemeinsam, vielfältig und kreativ. Uns ist hierbei egal, ob die Neonazis vor der Schule oder im Norden der Stadt aufmarschieren, ob hier in Wunsiedel, oder in Erfurt, Bamberg, Berlin oder sonst wo. Wir wollen uns Neonazis, ihren Traditionen und ihrer Selbstermächtigung in den Weg stellen. Wir möchten das konsequent machen und wir möchten das gemeinsam machen!“ Nachdem das neonazistische Heldengedenken 2020 coronabedingt nicht stattfand, marschierten am 14. November 2021 wieder knapp 200 Neonazis durch Wunsiedel. Mit mehr als 400 Antifaschist:innen waren auch wir in Wunsiedel um den Naziaufmarsch zu stören, wo immer möglich. Und trotz der entschlossenen antifaschistischen Demonstration war der Tag für uns kein Erfolg. Die Nazis konnten fast ungehindert durch Wunsiedel laufen und bekamen sogar – zum ersten Mal seit Jahren – eine Kundgebung am symbolträchtigen „Kriegerdenkmal“ genehmigt. Währenddessen wurde unsere Demonstration mit abstrusen Auflagen belegt und immer wieder gestoppt und von der Polizei angegriffen. Der Tag hat uns erneut gezeigt, dass wir uns bei unseren Protesten gegen Neonazis und Rechten Terror auf Staat und Polizei nicht verlassen können.
Und gerade deshalb werden wir nicht aufgeben, wir werden nicht akzeptieren, dass Nazis in Wunsiedel ungestört aufmarschieren. Unser Ziel ist und bleibt es, das jährliche Nazispektakel zu verhindern!
Infos zu Mobiveranstaltungen, dem Naziaufmarsch, der Anreise und den Aktionen unter nichtlangefackeln.noblogs.org oder auf Social Media.
1 www.antifainfoblatt.de/artikel/für-eine-große-internationalistische-antifaschistische-demonstration
2 www.antifainfoblatt.de/artikel/25-jahre-mythos-»rudolf-heß«
von Nicht lange Fackeln! – Antifaschistisches Bündnis