Erlanger Aktivist*innen erzählen von Wackersdorf
„Man überschätzt sich immer gerne. Es war ja ne Bewegung, die das Leben einiger Leute schon sehr lange dominiert hat und die schon etwas Einmaliges war. Und da sagt man sich dann natürlich, klar haben wir was dazu beigetragen. Ich weiß es aber nicht.“
Oberpfalz, Oktober 1981: Kurz nachdem bekannt wird, dass die zentrale Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für abgebrannte Brennstäbe aus deutschen Kernreaktoren in Wackersdorf gebaut werden soll, kommt es zur Gründung der Bürger*inneninitiative gegen die WAA Schwandorf. Diese Entscheidung markiert den Beginn einer jahrelangen Protestbewegung, die linke, antifaschistische, autonome aber auch bürgerliche Kräfte vereinen wird. Trotz mehrerer Großdemonstrationen mit bis zu 35.000 Menschen in Schwandorf, Wackersdorf und umliegenden Orten, beginnen 1985 die Rodungen im Taxöldener Forst. Es folgen ein Hüttendorf am Rodungsgelände, Platzbesetzungen, Polizeigewalt, Massengewahrsame, Repressionen, Demonstrationen am Zaun, zwei Tote. Etwas, das bis heute noch in Erzählungen von den Protesten durchscheint, ist besonders auch die breite Solidarisierung bis in bürgerliche Haushalte hinein.
Erlangen liegt unweit der Oberpfalz, mit dem Auto dauert es nur eine gute Stunde nach Wackersdorf. Als radikale Linke in Erlangen sind wir auch an der linken Lokalgeschichte interessiert und wollen herausfinden, was zu Wackersdorf-Zeiten in Erlangen los war. Wir treffen uns mit zwei Aktivist*innen von damals und sie beginnen zu erzählen: „Zunächst gab es in Erlangen ein breites, unorganisiertes Anti-WAA Plenum, woraus dann kleinere Gruppen entstanden.“ Vorangetrieben wird das maßgeblich von der lokalen Anti-Nato Gruppe, die vornehmlich autonom geprägt ist. „Die haben damals sehr gut mobilisiert. Die hatten das Konzept: wir wollen das breit machen. Sie sind in möglichst viele existierende Gruppen gegangen und haben die Gruppen agitiert. Ohne die Anti-Nato-Gruppe wäre das auch nie so geworden.“ Die ersten Treffen sind entsprechend sehr groß. Dabei sind etwa eine Bürger*inneninitiative gegen Munitionsbunker in Uttenreuth, die Initiative gegen imperialistische Theorie und Tat – Igitt und sonst „alles was sich so eingefunden hat“.
Für unsere Gesprächpartner*innen und einige Genoss*innen wird damals schnell klar, dass sie im Vergleich zu den etablierten Gruppen zu unorganisiert sind: Diese dominieren die Plena, die Neuen „kamen beim Plenum nicht zum Zug“.
Als Antwort löst sich aus dem WAA-Plenum eine kleine Gruppe heraus, die sich von nun an immer mittwochs trifft und daher ihren Namen ableitet: die Mittwochsgruppe. Sie verstehen sich als „eher anarchistisch organisiert“. Aus dieser Gruppe wird im Laufe der Jahre dann die Gruppo Diffuso – sie gibt es in Erlangen noch heute.
Trotz kleinerer Spaltungen und Neugründungen sind die damaligen Erlanger Anti-WAA Aktivist*innen auch viel in Wackersdorf aktiv und unterstützen die Proteste vor Ort. So gibt es beispielsweise auch eine „Erlanger Hütte“ im Hüttendorf im Taxöldener Forst. Dieses Hüttendorf entstand dort, um die Räumung eben jenen Waldes zu blockieren und zu verhindern. Neben der Erlanger Hütte gibt es weitere Hütten, die von Aktivist*innen aus jeweils anderen Städten errichtet wurden. Besonders in Erinnerung geblieben sind die Bauten von Regensburger Aktivist*innen: „Die waren Zimmerleute, die haben Baumhäuser gebaut, echt weit oben, das wurde dann später vom GSG 9 geräumt, weil sonst niemand hinkam. Die haben sich vom Hubschrauber abgeseilt. Das war die Zeit, in der die GSG 9 aktiv wurde.“
„Da hilft nur noch Hubschraubereinsatz. Hubschraubereinsatz. Hubschraubereinsatz.“
Warum der Song „Hubschraubereinsatz“ von der Band Foyer des Artes zum Erlanger „Demo Hit“ von Wackersdorf wurde, lässt sich auch auf einen Hubschraubereinsatz zurückführen: Am 7. September 1986 macht ein Polizist in einem Hubschrauber Jagd auf Aktivist*innen. Um drei seiner Kollegen wieder einsteigen zu lassen, landet er mitten auf dem Gleis einer an den Forst angrenzenden Bahnstrecke. Dabei kollidiert der Hubschrauber mit einem DB Triebwagen. „Hubschraubereinsatz“ passte da als Hymne wohl sehr gut und wird anschließend von vielen Aktivist*innen im Hüttendorf angestimmt.
Doch nicht nur Hütten werden gebaut, auch direktere Aktionen werden eifrig unterstützt: „Später, als der Bauzaun gebaut wurde, gab es dann das Erlanger Loch. Der Bauzaun wurde dann eben massiv angesägt und angegriffen. Um so einen Bauzaun zu demolieren, ist es gut, wenn man einen Riesenbolzenschneider hat, also so einen wo halt an jeder Seite dann zwei Leute zwicken, dann geht das durch wie Butter. So ein Gerät da hochzukriegen war aber nicht so einfach. Der Bolzenschneider wurde dann immer zerlegt in alle Kleinteile. Alle haben dann einzelne Teilchen von diesem Bolzenschneider hochgeschleppt und dann hat sich das ganze dort wieder zusammengefunden. Das hat immer gut funktioniert eigentlich. Und so haben sich eben verschiedene Städte an verschiedenen Stellen des Zauns zu schaffen gemacht. Vielleicht war es ein kleiner Vorläufer des Fingerprinzips.“
Bis heute werden die autonomen „Chaoten“ oft in ein Licht gerückt, in dem sie für die Gewalt verantwortlich waren und das repressive Vorgehen der Polizei nötig machten. Bestimmt waren es auch Autonome, die große Parts der Organisation in die Hand genommen haben, aber besonders bemerkenswert an den Wackersdorf Protesten ist ja eben, dass von Beginn an Autonome und „normale“ Bürger*innen Hand in Hand laufen.
„Weil die Polizei immer so massiv und irre vorgegangen ist, die rumgeknüppelt haben wie blöd. Also die Leute waren einfach entsetzt und haben sich dann solidarisiert. Sie waren halt einfach fassungslos. Irgendwann wurde der Polizeipräsident aus Regensburg abgesetzt und die alte Polizeitaktik, die hauptsächlich daraus bestand, dass CS-Gas geschossen wird, somit auch. Ab jetzt haben die Greiftrupps losgeschickt, die haben aber auch nicht so gut differenziert. Auch da wurden immer wieder Oberpfälzer Bürger*innen übel behandelt und haben sich dadurch immer mehr solidarisiert.“
Auch wenn Wackersdorf natürlich der zentrale Ort der Proteste ist, finden auch in Erlangen zahlreiche Soli- und Protestaktionen statt. Als die 61-jährige Erna im März 1986 von der Polizei umgehauen wird und anschließend an einem Herzinfarkt stirbt, schwappt eine große Welle der Solidarität und Wut durch die Republik. Ein Polizei-Verwaltungskiosk, der in Erlangen auf dem Hugenottenplatz aufgestellt worden war, um dort im öffentlichen Raum Präsenz zu zeigen, wird angegriffen und zerlegt:
„So ein Stand reizt halt viele Leute, Schabernack zu machen. Nach dieser Aktion war er dann kaputt und wurde nicht mehr aufgebaut.“
Besonders an der Erlanger Anti-WAA-Bewegung ist außerdem der direkte Bezug zu Siemens, das hier einen seiner Hauptsitze hat. Erlangen ist zu dieser Zeit der einzige bayerische Standort des Siemens Tochter-Kraftwerksunternehmens KWU (Kraftwerk Union AG), das vor allem den Bau von Kernkraftwerken betreibt. Am eingezäunten KWU-Gelände gibt es – in Anlehnung an die bekannten Spaziergänge in Wackersdorf – ebenfalls Zaunspaziergänge.
Zusätzlich gibt es mehrere Anti-KWU-Demos in Erlangen. Ihnen wird mit massiver Repression begegnet: „Vor allem auch im Vorfeld. Alle potenziell Beteiligten wurden immer observiert, man drehte sich um und plötzlich war ein Auto hinter dir. Wir wurden ständig beschattet wegen so Kleinigkeiten.“
Ein antikapitalistischer WAA-Film von Menschen aus der Anti-Nato-Gruppe, Igitt und der E-Werk Filmgruppe, mit dem Namen „WAArum“, soll im lokalen Kulturzentrum E-Werk Premiere feiern. Aufgrund von Druck der Polizei und Siemens wird die Veranstaltung aber abgesagt: „Weil es damals eh so Befürchtungen gab, dass die Autonomen das E-Werk übernehmen. Eine völlige Überschätzung (lacht).“ Die Vorstellung konnte schließlich aber doch durchgesetzt werden.
1988 stirbt der Mann, dessen Prestigeprojekt der Bau der WAA war: Franz Josef Strauß. In Erlangen sorgt ein Transpi in der Bismarckstraße für Furore: „Leute lasst die Korken knallen, das dumme Schwein ist umgefallen.“
Strauß‘ Tod in Kombination mit den steigenden Baukosten führen schlussendlich aber zu einem Baustopp. Die WAA wird nie fertiggebaut. Welche Rolle dabei die WAA-Proteste gespielt haben?
„Ich glaube es war ein hoher politischer Preis, den die Politik hier gezahlt hat, weil sie einfach die Bevölkerung der Oberpfalz gegen sich aufgebracht haben. Die Oberpfalz war für sie nicht mehr richtig kalkulierbar, man wusste nie, wie sich das politisch so weiterentwickelt. Es hat im sozialen Gefüge der Oberpfalz was verändert und polarisiert. Es gab etliche Leute aus der Oberpfälzer Szene, die dann im Zuge dieser Wackersdorfsachen, auch weil sie studieren angefangen haben, nach Erlangen oder Nürnberg gekommen sind. Wackersdorf war schon auch so ein Einstieg in so eine linksradikale Szene. Es hat festere Strukturen geschaffen, die dann konstanter waren.“
Auch wenn die Wackersdorf-Proteste nicht als rein antifaschistische Kämpfe bezeichnet werden können, betrachten wir sie trotzdem als Teil antifaschistischer Kämpfe in der BRD: Sie können als Vorgängerin heutiger Bewegungen wie Ende Gelände oder Hambi bleibt betrachtet werden: Kämpfe, die antikapitalistisch, ökologisch und explizit antifaschistisch sind. Im konkreten Fall Erlangen waren die Proteste von Wackersdorf auch wichtig für die Bildung antifaschistischer Strukturen. Aus der Mittwochsgruppe wird die Gruppo Diffuso, die sich in den folgenden Jahren besonders mit ehemaligen Partisan*innen aus Italien vernetzt, Recherchen zu Kriegsverbrecher*innen aus Erlangen aufbereitet und mehrere Ausstellungen konzipiert.
Bis heute ist die Gruppo Diffuso eine wichtige unterstützende Instanz für alle nachfolgenden Antifaschist*innen.
Aus heutiger Perspektive bleibt von Wackersdorf vor allem die starke Solidarisierung zwischen den – auch radikalen und militanten – Protesten und der breiten Bevölkerung der Oberpfalz im Gedächtnis. War es nur die brutale Bullengewalt, die dafür sorgte? Was haben die damaligen Aktivist*innen richtig gemacht, damit es so kam? Und wie können wir, als heutige Antifa-Bewegung daran anknüpfen? Wie gelingt breite Bündnisarbeit, ohne inhaltliche Radikalität einzubüßen? Wie kann antifaschistische Praxis funktionieren, die nicht beim ersten Rauchtopf und der ersten Vermummung Entsolidarisierung aus dem linksliberalen Millieu erfährt?
von Gruppe Antithese