Interview mit der initiative kritisches gedenken erlangen
aus dem NIKA-Zine #1
Warum gibt‘s euch? Was macht ihr?
Die initiative kritisches gedenken erlangen hat sich Anfang 2019 als Verein gegründet. Wir wollen den antisemitischen Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 in Erlangen aufarbeiten und ein kritisches Gedenken etablieren. Dabei können wir auf den Vorarbeiten und Erfahrungen antifaschistischer Gruppen aufbauen, die schon seit knapp 10 Jahren am Tattag Gedenkkundgebungen in der Innenstadt organisieren.
Im Zuge dessen wurde immer deutlicher: die Vorgeschichte der Tat, die Tat selbst, die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden und der Justiz, das Gerichtsverfahren, die mediale Berichterstattung und schließlich die lange Geschichte des Vergessens – all das ist noch lange nicht aufgearbeitet. Stattdessen zeigen sich zahlreiche Parallelen zu anderen antisemitischen und rassistischen Morden und Gewalttaten.
Im ersten Schritt beschäftigen wir uns mit diesen vielen unterschiedlichen Facetten: Wir suchen in staatlichen, kommunalen, sozialen und anderen Archiven nach Informationen, recherchieren und interviewen Zeitzeug*innen, vernetzen uns mit Journalist*innen und anderen Initiativen und Gruppierungen. Darüber hinaus beschäftigen wir uns auch auf theoretischer Ebene mit Antisemitismus und Gedenken.
Unser grundlegendes Ziel ist es aber letztlich, eine kritische Öffentlichkeit für das Erlanger Attentat und den gegenwärtigen rechten Terror herzustellen. Wir leisten Bildungsarbeit, halten selbst Vorträge oder organisieren sie, bieten Workshops für Schulen & Hochschulen an, unterhalten eine Homepage und sind auf social media präsent. Aktuell konzipieren wir darüber hinaus eine Ausstellung zum antisemitischen Doppelmord und planen größere Veranstaltungen zum diesjährigen 40. Jahrestag – unter anderem die inzwischen zehnte Gedenkkundgebung in der Innenstadt.
Ihr seid ja die initiative kritisches gedenken – was unterscheidet euch vom ‚herkömmlichen‘ Gedenken?
Wenn du mit herkömmlichem Gedenken staatliches bzw. kommunales Gedenken meinst, dann ist uns ein Aspekt besonders wichtig: Offizielles Gedenken arbeitet mit einer Art Selbstbestätigung: „Wie schlimm, was passierte – wie gut, dass es vorbei ist.“ Es spart die eigene Verwobenheit und auch die bis heute fortwirkenden Umstände aus, die viele Taten, so auch den Mord an Lewin und Poeschke, erst möglich gemacht und hervorgebracht hatten. Bestimmte Umstände der Tat werden nicht thematisiert und das Geschehene dadurch entpolitisiert. Folge dieses herkömmlichen, also staatlichen Gedenkens ist letztlich die Legitimierung des gesellschaftlichen Status quo, die individuelle wie kollektive Selbstvergewisserung. Auch wenn in den letzten Jahren einige Elemente des kritischen Gedenkens in Formen staatlichen Gedenkens integriert wurden, sehen wir hier ein Problem, das mit dem Zweck offiziellen Gedenkens in Verbindung steht:
Wir als Initiative betonen stark, dass jedes Gedenken IMMER einen Zweck verfolgt, gewissermaßen die Tat durch jede Form des Gedenkens auch instrumentalisiert wird. Wir stellen uns also nicht gegen eine unvermeidliche Instrumentalisierung, sondern fragen nach deren Intention und Zweck. Und unsere Meßlatte ist die einfache und klare Forderung „Nie wieder!“. Beim offiziellen Gedenken ist dies, wie gesagt, immer – mehr oder minder stark ausgeprägt – die Legitimierung des Status quo und die kollektive Selbstvergewisserung, beispielsweise als „geläuterte Nation“ oder als „Erinnerungsweltmeister“. Das heißt für uns, dass kritisches Gedenken, also „echtes“ Gedenken (das das Ziel der Verhinderung der Wiederholung ernst nimmt) dreierlei leisten muss. Als erstes muss es schonungslos die staatlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Tat selbst, sowie die Grundannahmen der Interpretation des Vorfalls durch Gesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien erkennen. Als Zweites müssen diese Bedingungen benannt und kritisiert werden. Diese Kritik muss sich unerlässlich auch auf die Bedingungen fokussieren, die bis ins Hier und Heute fortwirken und eben eine Wiederholung ermöglichen. Und letztlich muss auch eine kontinuierliche politische Arbeit gegen diese Bedingungen erfolgen. Es kann und darf nicht bei einmaligen oder auch jährlich wiederkehrenden (Lippen-)Bekenntnissen bleiben.
Ihr habt es ja schon gesagt: Es gibt Parallelen zu anderen rassistischen oder antisemitischen Anschlägen und Morden. Welche Bezüge, Unterschiede oder Gemeinsamkeiten seht ihr bei den Taten und beim aktuellem Gedenken (zB. in Hanau oder Halle)?
Bezüge sind allerhand zu finden – sowohl in konkreten Gemeinsamkeiten wie auch in Unterschieden, die teilweise auch mit einer Analyse der Zusammenhänge von Rassismus und Antisemitismus einhergehen. Auf phänomenologischer Ebene finden wir bei allen Taten ähnliche Muster der Erklärung durch Behörden, Politik und auch Medien, lediglich die Schwerpunkte werden jeweils anders gesetzt: Allen voran die schnell vorgebrachte Einzeltäterthese – jeweils mit starken Tendenzen zur Entpolitisierung des Geschehenen, indem die jeweiligen Täter*innen als sozial isoliert und geistig verwirrt inszeniert werden. Bei fast allen Taten erkennen wir auch einen spezifischen Umgang der Sicherheitsbehörden und Medien mit den Opfern und deren Angehörigen: Sie werden unzureichend informiert, ihnen wird kein Gehör geschenkt oder sie werden in Teilen sogar selbst verdächtigt und diffamiert. Und letztlich werden der Staat und seine Organe nicht müde, die vermeintliche Neuartigkeit, Unvorhersehbarkeit und Einmaligkeit des Geschehenen zu betonen.
Dabei zeigt sich bei genauerer Analyse, dass es für jede Tat zuvor bereits mehr oder weniger deutliche Anhaltspunkte gab, denen nicht nachgegangen wurde. Stattdessen werden Versäumnisse und Fehler verschwiegen und wenn überhaupt mit Sachzwängen oder individuellen Unzulänglichkeiten erklärt. Die zentrale Frage nach den strukturellen Ursachen dieses durchgehenden Staatsversagens wird nicht gestellt. Diese Probleme setzen sich im weiteren zeitlichen Abstand zur Tat fort bzw. intensivieren sich durch die abflauende Aufmerksamkeit.
Ein großer Unterschied den wir sehen ist aber: Den Taten der letzten Jahre wird gedacht. Shlomo Lewin und Frieda Poeschke, ihre Ermordung und deren Umstände, wurden schnell vergessen und erst seit einigen Jahren setzt langsam auch ein kommunales Gedenken ein. Bei den aktuelleren Taten fanden schon zeitnah größere (Gedenk-)Veranstaltungen statt und allerhand Politprominenz ließ sich die Chance auf markige Reden nicht entgehen. Trotz – oder vielleicht auch wegen – dieser kurzfristigen Events legte sich kurz darauf aber allerorts ein schreiendes Schweigen über das Thema. Sobald Polit- und Medienzirkus weitergezogen sind, stehen die Betroffenen wieder alleine da. Die markigen Worte der Politiker*innen übertönten deren kritische Stimmen, die echte Aufarbeitung und (auch) strukturelle Konsequenzen fordern. In vielen Fällen kamen die Betroffenen auf den Veranstaltungen aber gar nicht zu Wort, in manchen Fällen wurden sie noch nicht einmal eingeladen. Und das, obwohl es immer mehr kritische, antifaschistische Initiativen gibt, die in Zusammenarbeit mit Betroffenen Gedenken und politische Arbeit organisieren.
Welche (politischen) Forderungen habt ihr als Initiative?
Als Erstes sollten die Forderungen der Politik und besonders der Sicherheitsbehörden genau in den Fokus genommen werden: Reflexartig wird meist mehr Personal für die Sicherheitsbehörden, werden mehr Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse vor allem auch im digitalen Raum, eine bessere Vernetzung der verschiedenen Organe und schließlich härtere Strafen im Rahmen der Gerichtsverfahren gefordert – und all das im Sinne der Extremismustheorie – natürlich wegen der vermeintlich steigenden Bedrohung durch „alle Extremisten“. Diese Forderungen sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems! Die Extremismustheorie relativiert einerseits rechte Gewalt und andererseits den Umstand, dass es sich bei Antisemitismus, ebenso wie bei Rassismus und anderen Formen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, um gesamtgesellschaftliche wie auch um staatlich-strukturelle Probleme handelt.
Die Forderung nach mehr Personal und Befugnissen schlägt in die gleiche Kerbe: Damit werden gewissermaßen die Gründe für die fortgesetzte Untätigkeit der staatlichen Organe auf einen angeblichen Mangel in diesem Bereich zurückgeführt. Ein Blick jedoch – und der muss nicht einmal genau sein – zeigt: Das sind sicher nicht die ursächlichen Probleme. NSU 2.0, massenhafte Datenabfragen von Polizeicomputern als Grundlage von Drohschreiben, die Gruppen rund um Hannibal und die unzähligen rechten Chatgruppen von Polizist*innen und Spezialkräften zeigen: das Problem ist struktureller Natur. Und dieses Problem wird nicht benannt und erst recht nicht bekämpft. Zentrale Akteure, wie das Innenministerium unter Horst Seehofer, wollen das Problem ja nicht einmal sehen und lehnen beispielsweise wissenschaftliche Untersuchungen zum sog. „racial profiling“ weiterhin strikt ab. Unsere erste Forderung kann demnach zusammengefasst werden als grundlegende Kritik an den bestehenden Verhältnissen und deren Symptomen wie ihrer Sicherheitsarchitektur, Forderungen nach Befugnisausweitungen bzw. anderen staatlichen „Problemdiagnosen“. Dies versuchen wir durch unsere Aktivitäten und Bildungsangebote zu vermitteln.
Aus staatsferneren, zivilgesellschaftlichen Initiativen und aus Teilen der Opposition werden darüber hinaus Forderungen erhoben, die als akute „Feuerwehrmaßnahmen“ durchaus in den Blick genommen werden sollten. Zu nennen wären hier beispielsweise die Implementierung der Kategorie der „Hate Crimes“ in die deutsche Strafgerichtsbarkeit und ganz zentral die Forderung, dass staatliche Behörden ihrer Pflicht, diskriminierte und marginalisierte Gruppen zu schützen, endlich nachkommen. Das bedeutet auch, entsprechende Sicherheitsvorkehrungen an entsprechenden Orten und Räumen zu finanzieren und für deren Schutz zur Verfügung zu stehen. Wenn der Staat aber nicht nur bauliche Schutzmaßnahmen finanzieren soll, sondern auch konkret Polizist*innen Orte schützen sollen, muss dies mit einer konsequenten Bekämpfung von rechten Strukturen innerhalb der Sicherheitsorgane einhergehen. Eine „NSU 2.0-Polizistin“ vor einer jüdischen Einrichtung würde natürlich jede Sinnhaftigkeit von „Schutz“ konterkarieren. Von einer Umsetzung dieser Forderungen, die eigentlich selbstverständlich sein müssten, ist Deutschland und besonders Bayern aber meilenweit entfernt. Wir sehen zwar unseren Arbeitsschwerpunkt nicht in diesem Bereich, unterstützen aber selbstverständlich solche Forderungen nach akuten Änderungen, besonders wenn sie von Betroffenen erhoben werden.
Neben der grundlegenden Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen fordern wir, Betroffene endlich ernst zu nehmen! Lange vor der Selbstenttarnung des NSU wiesen beispielsweise Opfer des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße und viele andere auf rechte Täter hin. Sie wurden nicht gehört und erst recht nicht ernst genommen. Shlomo Lewin warnte mehrfach vor Antisemitismus, Neonazis und der Wehrsportgruppe, in der auch sein späterer Mörder aktiv war. Sein Umfeld berichtete dies nach der Tat den Ermittlern und es fanden sich auch eindeutige Indizien am Tatort. All das stieß zu lang auf taube Ohren und wollte nicht gesehen werden.
Umso wichtiger ist die Selbstorganisierung innerhalb der migrantischen Communities. Unzählige aktive Einzelpersonen, Gruppen, Initiativen und Bündnisse entstehen und vernetzen sich. All denen gilt unsere Solidarität und unser Support. Nur vernetzt und solidarisch können wir grundlegende Veränderungen erreichen.
Die initiative kritisches gedenken beteiligt sich an der Kampagne „Mehr als 40 Jahre“ die sich 40 Jahre nach den Morden in Erlangen, in der Hamburger Halskestraße und dem Oktoberfestattentat mit den Kontinuitäten rechten Terrors auseinandersetzt.