Warum die Lösung des deutschen Polizeiproblems nur eine konsequente Entnazifizierung der Gesellschaft sein kann
Von der antifaschistischen Initiative das Schweigen durchbrechen
Im Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ wird deutlich die Realität der frühen Bundesrepublik dargestellt. Sozialdemokrat und Antifaschist Bauer wurde, nach seiner Rückkehr aus dem Exil während des Nationalsozialismus, Staatsanwalt in Hessen. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildete die Verfolgung von Nazikriegsverbrecher*innen. Der Film spielt in den späten 50er Jahren und beschreibt die Fahndung nach Adolf Eichmann, dem Organisator der Infrastruktur für den Massenmord an den europäischen Jüdinnen*Juden. Bauer findet Beweise dafür, dass Eichmann nach dem zweiten Weltkrieg in Argentinien unter falschem Namen untergetaucht und dort in einem Daimler-Benz-Werk beschäftigt ist. Mit dem Wissen, dass die deutschen Sicherheitsbehörden noch über 10 Jahre nach Gründung der BRD von Nazis durchsetzt sind, beschließt Bauer, sich an den israelischen Geheimdienst zu wenden, obwohl er weiß, dass dieser Schritt dem Tatbestand des Verrats entspricht. Er entschließt sich dazu, weil er überzeugt ist, dass der Weg über deutsche Behörden bedeuten würde, dass Eichmann rechtzeitig gewarnt wäre und sich seiner Verhaftung entziehen könnte. Der ganze Film mutet wie ein Spionagethriller an, obwohl die Hauptperson eines der höchsten juristischen Ämter im Land Hessen innehat. Bauer scheint sich in einer gänzlich feindlichen Umgebung zu bewegen, obwohl er pflichtbewusst seiner Aufgabe, der Verfolgung von Kriegsverbrecher*innen, nachgeht. Er will als Staatsanwalt die Entnazifizierung juristisch vorantreiben, indem er Täter*innen vor Gericht bringt, aber die Strukturen, in denen er sich bewegt, sind von Nazis durchsetzt. Das Resultat: Von fast allen Seiten schlägt ihm Feindseligkeit entgegen.
Der Gedanke, dass sich Funktionseliten aus dem Nationalsozialismus nach der militärischen Niederlage Deutschlands in die Bundesrepublik hinüberretteten, ist fast schon verharmlosend. Sie mussten keine oder kaum Konsequenzen ihres Handelns fürchten, nach 1945 wurden sie mit Handkuss wieder in die selben oder ähnliche Positionen übernommen. Gerade Sicherheitsorgane weisen ungebrochene Kontinuitätslinien aus dem Nationalsozialismus in die Bundesrepublik auf. Der heutige Auslandsgeheimdienst BND ging aus der vom ehemaligen Generalmajor der Wehrmacht, Reinhard Gehlen, aufgebauten „Organisation Gehlen“ hervor, deren eigentlicher Zweck in staatlich organisiertem Antikommunismus bestand. Gehlen plante während des Nationalsozialismus die Logistik für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion und war danach für die Aufklärung im Krieg mit der Sowjetunion zuständig. Heute ist auch eindeutig nachgewiesen, dass eben dieser Auslandsgeheimdienst schon lange vor Bauer vom Aufenthaltsort Eichmanns wusste und dessen Verhaftung mindestens mit der Zurückhaltung der entsprechenden Informationen behinderte(1). Dabei war der BND bei weitem nicht das einzige Sicherheitsorgan in der BRD, das von Nazis aufgebaut wurde. Wie stark deutsche Sicherheitsbehörden von Nazis durchsetzt waren, wird eindrucksvoll in einem online veröffentlichten „Stammbaum der deutschen Polizei“(2) deutlich. Von den 36 Führungsbeamten im BKA von 1954 hatten gerade einmal sieben keinen Nazihintergrund. Dafür waren fast 70 % der Beamten Angehörige der SS. Eine Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen hinderte also nicht daran, in der BRD Karriere zu machen. In den Sicherheitsbehörden und im deutschen Militär schien eine Nazivergangenheit eher karrierefördernd zu wirken.
Von solchen personellen Kontinuitätslinien aus der NS-Zeit bis in die aktuellen Strukturen der Sicherheitsbehörden kann natürlich keine Rede mehr sein. Ehemalige Funktionär*innen des Nationalsozialismus sind heute in Rente oder im besten Falle weggestorben. Ideologisch scheinen aber immer noch gewisse Kontinuitätslinien vorhanden zu sein. Während beim NSU-Komplex noch von Ermittlungspannen gesprochen wurde, als der Verfassungsschutz das Nazinetzwerk gedeckt und die Polizei strukturell rassistisch ermittelt hatte, kommen Regierungsvertreter*innen aktuell selbst kaum mehr umhin einzugestehen, dass es ein Problem mit rechten Netzwerken innerhalb der Sicherheitsbehörden gibt. Das mag vor allem an der Vehemenz und Deutlichkeit liegen, mit der rechte Netzwerke dort agieren. Beispiele gibt es im Moment zuhauf: Der Fall des Bundeswehroffiziers Franko A., der getarnt als syrischer Geflüchteter in der BRD Anschläge verüben wollte um antimuslimischen Rassismus zu befeuern. Das Hannibalnetzwerk, bestehend aus Angehörigen von Bundeswehr und anderen Sicherheitsbehörden, die sich auf einen Tag X vorbereiteten, um einen Staatsstreich auszuführen und politische Gegner*innen zu ermorden. Der NSU 2.0 mit mutmaßlich Polizeibeamten aus Hessen, die antifaschistischen Politiker*innen, Journalist*innen, (post-)migrantischen Anwält*innen und Künstler*innen mit dem Tod drohten. Zudem verschwinden immer wieder große Mengen von Munition aus Polizei- und Militärbeständen. Diese wird im glücklichsten Fall bei militanten rechten Gruppen gefunden, bevor sie zum Einsatz kommt, wie vor kurzem bei der Gruppe Nordkreuz, die in Mecklenburg-Vorpommern vor Gericht steht. Hinzu kommen immer wieder Fälle von mindestens mysteriösen Todesfällen in Polizeigewahrsam oder bei Polizeieinsätzen, deren Opfer marginalisierte Gruppen, vor allem Migrant*innen sind, beispielsweise in den Fällen Oury Jalloh in Dessau oder Ahmed Amad in Kleve(3).
Autoritäre Strukturen und struktureller Rassismus innerhalb der Sicherheitsbehörden sind natürlich kein spezifisch deutsches Problem. Man muss sich bewusst sein, dass alleine der formale Aufbau und die Art und Weise, wie Sicherheitsbehörden organisiert sind – streng hierarchische Befehlsstrukturen, Korpsgeist, militärische Rangordnungen, mehrheitlich immer noch Männerseilschaften und universeller Maskulinismus – Anziehungskraft auf autoritäre Charaktere ausüben. Hinzu kommt die Möglichkeit, in der Funktion als Angehöriger der Sicherheitskräfte Autorität, Macht und Gewalt gegen Andere – schwerpunktmäßig gegen Marginalisierte – auszuüben. Das Gefühl, die Mehrheitsgesellschaft gegenüber schädlichen Elementen zu verteidigen, spielt dabei eine wichtige Rolle. All das sind Ideologiefragmente, die so oder in leicht abgewandelter Form in der politischen Rechten zu finden sind. Sie erklären, warum es für autoritäre Charaktere und Rechte nahe liegt, das Hobby zum Beruf zu machen und sich um eine Karriere in Polizei und Militär zu bemühen. Das erklärt aber noch nicht, warum gerade in Deutschland ein besonderes Polizeiproblem zu Tage tritt. In den letzten Jahren fand sich kaum ein öffentlicher Skandal um Anschlägspläne und Bedrohungsszenarien durch die extreme Rechte, in die nicht irgendwelche Angehörigen oder Organe der Sicherheitsbehörden verstrickt waren – man denke an die Beispiele, die bisher genannt wurden.
Erklären lässt sich das durch ein Zusammentreffen dreier spezifischer Faktoren: die beschriebene autoritäre Struktur von Sicherheitsbehörden im Allgemeinen, die Prägung der deutschen Sicherheitsbehörden durch ehemalige nationalsozialistische Funktionär*innen und ein Zusammenspiel von Tabu und Kontinuität nationalsozialistischer Ideologiefragmente innerhalb der deutschen Gesamtgesellschaft. Während in anderen europäischen Staaten konservative und rechte Weltbilder maßgeblich durch die Vorstellung von autoritärem Staat und Nationalismus geprägt sind, ist die deutsche Rechte immer noch stark von nationalsozialistischen Vorstellungen beeinflusst. Die Konsequenz daraus ist, dass Volksgemeinschaftsideologie die Funktion von einfachem Autoritarismus einnimmt und “normaler” Nationalismus von völkisch-rassistischen Vorstellungen ersetzt wird. Hinzu kommen Arbeitswahn, Führerkult, Untertanengeist und Antisemitismus in verschiedensten Formen. Diese Vorstellungen sind besonders innerhalb der Sicherheitsbehörden tradiert worden. Einerseits, weil sie die deutsche Entsprechungsform des autoritären Weltbildes sind und auf den allgemeinen Charakter der Sicherheitsbehörden abzielen. Andererseits aber auch durch das explizit nationalsozialistische Personal in seiner Gründungszeit und eine hierdurch etablierte Kultur und Tradition, die bis heute fortbesteht. Deutlich wird das z.B. an der Bundeswehrspezialeinheit KSK, die immer wieder aufgrund extrem rechter Netzwerke und Ideologien innerhalb der Einheit in den Fokus der Öffentlichkeit geriet. Nun sah sich selbst das Verteidigungsministerium gezwungen, Konsequenzen zu ziehen und Teile des sich in der Tradition der Wehrmachtsspezialeinheit “Division Brandenburg” sehenden KSK aufzulösen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kommt dann der dritte Faktor hinzu. Der Umgang mit dem Vorhandensein nationalsozialistischer Ideologiefragmente lässt sich unter den Schlagworten “Tabu und Kontinuität” zusammenfassen. Das Tabu ist Folge des Selbstbildes der BRD, das „andere“ Deutschland im Bezug auf den NS zu sein. Ein Eingestehen der ideologischen Kontinuität und deren Wirkungsmacht würde am Selbstbild dieses “besseren” Deutschlands kratzen(4). Dadurch wird eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten verunmöglicht, da Rassismus und extrem rechte Netzwerke externalisiert werden, statt deren strukturellen Ursprung zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Die aktuelle Debatte über Rassismus in den deutschen Sicherheitsbehörden kratzt entsprechend nur an der Oberfläche des Problems: Rassistische Praktiken oder einzelne Fälle werden skandalisiert. Der Ursprung der weit verzweigten rechten Netzwerke innerhalb der Sicherheitsbehörden und deren Militanz findet sich in der öffentlichen Debatte jedoch kaum: Das Fortbestehen nationalsozialistischer Ideologie in der BRD. Autoritarismus und Gewalt gegen Marginalisierte sind strukturell in den Sicherheitsbehörden angelegt. Die Forderung nach einer nicht-rassistischen Polizei ist schlussendlich mit der Forderung nach der Abschaffung der Polizei identisch – darin sollten gerade wir antiautoritäre Linke keinen Zweifel haben. Das deutsche Polizeiproblem geht aber darüber hinaus, weil sich innerhalb der Sicherheitsbehörden Netzwerke bilden, deren Handeln nichts mehr mit klassischer Polizeigewalt zu tun hat. Die Akteur*innen besitzen inzwischen ein solches Selbstvertrauen, dass sie Putsche planen oder sich Bürgerkriegsszenarien ausmalen. Die Konsequenz, die hieraus zu ziehen ist, lautet, 75 Jahre nach der militärischen Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg endlich eine konsequente Entnazifizierung einzufordern. Die Formen, die diese annehmen kann, sind dabei vielseitig und zielen nicht alleine auf deutsche Sicherheitsbehörden, sondern auf die Gesellschaft als ganze ab. Schließlich gilt es dabei, alle tradierten nationalsozialistischen Bilder und Denkmuster zu überwinden. Die Vorstellung, diese seien nur in den Sicherheitsbehörden vorhanden, wäre am Ende nichts anderes als eine Modifikation des deutschen Tabus, um das Fortwirken dieser Ideologie zu verdrängen. Sicherheitsbehörden sind am Ende nichts weiter als ein besonders gefährlicher Teil der deutschen Gesellschaft. Rechte Täter*innen werden als psychisch erkrankte oder frustrierte Verlierer*innen porträtiert und ihre rechte Ideologie heruntergespielt. Es wird ausgeblendet, dass rechter Terror in einer Gesellschaft entsteht, in der Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit, Ableismus, Sozialdarwinismus und Antiziganismus überall zu finden sind.
Entnazifizierung jetzt bedeutet: Unterscheidungen zwischen “uns” und “ihnen” anhand von scheinbar natürlichen Kategorien immer und überall zu bekämpfen. Diese Unterscheidung – egal ob offen völkisch aufgrund von Abstammung oder vermeintlich aufgeklärt als kultureller Unterschied benannt – stellt in weiten Teilen der Gesellschaft die Grundlage dar, auf der „unsere“ Identität durch die bloße Anwesenheit der „Anderen“ bedroht wird. „Entnazifizierung jetzt“ bedeutet auch, mit Geschlechterbildern wie „der Frau“ als Mutter und „dem Mann“ als Kämpfer zu brechen und eine Vielfalt von Geschlechtern und Geschlechterrollen zu erkämpfen. Es bedeutet, die Stimmen derer zu hören und ernst zu nehmen, die von Rassismus betroffen sind. Entnazifizierung bedeutet, rechte Tendenzen in Polizei, Justiz und Militär konsequent zu verfolgen und deren rechte Netzwerke zu zerschlagen. Entnazifizierung hat viele Ebenen, von alltäglichen Auseinandersetzungen auf der Arbeit und in der Schule bis zu den großen gesamtgesellschaftlichen Kämpfen. Die Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit dem NSU-Komplex, mit dem rechten Terror in Hanau, Kassel und Halle und all den Skandalen in und um die Sicherheitsbehörden zeigt aber deutlich: Die Gesellschaft vollzieht die Entnazifizierung nicht von selbst, sondern es braucht eine kämpferische Zivilgesellschaft, die sich das erstreitet.