Ein Interview zum NSU-Tribunal in Nürnberg
Im Frühjahr 2021 findet zum vierten Mal das NSU-Tribunal statt, diesmal in Nürnberg. Wir haben uns mit dem Vorbereitungskreis über das Projekt unterhalten.
Könnt ihr uns das NSU-Tribunal kurz vorstellen?
Das Tribunal ist ein Ort der gesellschaftlichen Anklage von Rassismus. Die Berichte der Betroffenen und Angehörigen stehen im Mittelpunkt. Ihre Geschichten gilt es zu hören und zu verstehen. Angeklagt werden die Akteur*innen des NSU-Komplex mitsamt ihrer institutionellen Einbettung. Beklagt werden die Opfer rassistischer Gewalt und das entstandene Leid. Eingeklagt wird das Prinzip einer offenen, durch Migration entstandenen Gesellschaft der Vielen. Basierend auf dieser Grundkonzeption gab es 2017 in Köln, 2018 in Mannheim und 2019 in Chemnitz Tribunale, die mit verschiedenen Schwerpunkten die Auflösung des NSU-Komplexes gefordert haben. Wir wollen der Forderung im Mai 2021 in Nürnberg weiter Nachdruck verleihen.
Warum habt ihr euch für die Aktionsform des Tribunals entschieden, welche Möglichkeiten eröffnet euch das?
Obwohl auch wir wieder in einem Theater zu Gast sein werden, sind Tribunale keine Theaterstücke, sondern die Bündelung der antirassistischen Arbeit sehr vieler Gruppen und Personen mit klaren politischen Forderungen. Die Form soll kein Gerichtsverfahren sein, was einen herrschaftlichen Ausdruck hätte, dem wir kritisch gegenüberstehen. Ein Tribunal soll aber auch keine Konferenz sein, auf der stundenlang Vorträge gehalten werden, die mehr ermüden als erhellen. Daher gilt es eine Form zu finden, in der die Komplexität für ein breites Publikum handhabbar gemacht wird. Dabei geht es um Vereinfachung, Entfremdung, Übersetzung, Visualisierung, Assoziation; dafür brauchen wir die Erfahrung und das Können von Menschen, die sich im künstlerischen Bereich auskennen. Außerdem hoffen wir natürlich, dass ein Staatstheater noch einmal mehr und andere Leute anspricht als der Vortrag im selbstverwalteten Zentrum oder Stadtteilladen.
Warum habt ihr euch für Nürnberg als Ort des vierten NSU-Tribunals entschieden?
In der Nürnberger Südstadt wurde 1999 in der Pilsbar „Sonnenschein“ in Mordabsicht die erste Bombe gezündet, ein Jahr später gab es mit Enver Şimşek den ersten Toten zu beklagen. Insgesamt fielen in Bayern fünf Menschen dem NSU-Terror zum Opfer. Und mit der Anerkennung und Aufklärung rechten Terrors tut man sich in Bayern traditionell schwer – so auch im NSU-Komplex. Weder im relativ frühen Untersuchungsausschuss noch im Prozess vor dem Oberlandesgericht München wurden Antworten auf die entscheidenden Fragen gegeben: Wer waren die lokalen Unterstützer*innen? Welche Verantwortung tragen staatliche Stellen? Nehmen wir noch einmal den ersten Anschlag: Als die Bombe im „Sonnenschein“ nachträglich dem NSU zugeordnet werden konnte, war der Untersuchungsausschuss bereits abgeschlossen und im NSU-Prozess wurde der Fall ausgeklammert. Der bisher erzeugte politische Druck sowie die Recherchen engagierter Journalist*innen reichen nicht aus, damit sich in Bayern etwas bewegt. Indem wir ein Tribunal in der Stadt durchführen, in der 3 Menschen getötet und mit dem Kneipenwirt Mehmet O. eine weitere Person schwer verletzt wurde, wollen wir das ändern.
Wird die Anklage der Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, İsmail Yaşar auch ein Schwerpunkt des Tribunals sein? Gibt es weitere inhaltliche Schwerpunkte?
Die Klage um die Opfer des NSU-Terrors wird natürlich im Zentrum des Tribunals stehen. Eng damit verknüpft ist der kritische Blick auf die Formen der Erinnerung, die sich in den Mordstädten etabliert haben. Wir wollen aber auch die Kontinuitäten rechten Terrors in Bayern thematisieren, zum Teil lassen sich hier durchaus Parallelen zum NSU-Komplex erkennen. 1980, nach dem antisemitischen Doppelmord an Frida Poeschke und Shlomo Lewin in Erlangen, machten Polizei und Medien zunächst ebenfalls die Opfer zu Täter*innen und verdächtigten ihr Umfeld – und nicht die rechtsterroristische Wehrsportgruppe Hoffmann. Raum brauchen auch die antirassistischen Kämpfe der Gegenwart: Die Sonderlager für Geflüchtete wurden in Bayern erfunden, 2019 starb Rooble Warsame in einer Polizeizelle in Schweinfurt.
Welche Rolle spielen die rassistischen und antisemitischen Anschläge von Halle und Hanau bei der Planung des Tribunals?
Wir versuchen die Entwicklungen genau zu verfolgen, uns mit den lokalen Initiativen abzustimmen und wenn möglich solidarisch zu sein. Wenn Betroffene und Hinterbliebene der beiden Anschläge das Tribunal in Nürnberg auch als einen Raum sehen, um ihren Perspektiven und Forderungen Nachdruck zu verleihen, würde uns das sehr freuen.
Was glaubt ihr können Antworten auf autoritäre Formierung und rechten Terror sein?
In aller Kürze und entsprechender Verkürzung: Den Betroffenen von Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus zuhören und ihre Perspektiven ernstnehmen. Als Migrantifa antifaschistische, antirassistische und selbstorganisierende Kämpfe zusammenführen. Als Gesellschaft der Vielen rassistische Spaltung und Antisemitismus überwinden und neue fortschrittliche Gestaltungsräume öffnen.